Am Karl-Liebknecht-Gymnasium in Frankfurt an der Oder lernen Deutsche und Polen seit 10 Jahren gemeinsam für das Abitur. JUMA hat sich in der Klasse 11 D über das Schulprojekt an der deutsch-polnischen Grenze informiert. Sprungbrett für die Zukunft Es ist 6 Uhr 45 in
Kunowice, einem kleinen Ort in Polen. Wiktor, 17, verlässt das Haus seiner
Eltern. Er setzt sich in sein altes Auto und fährt 7 Kilometer bis nach
Slubice. Slubice liegt auf der polnischen Seite an der deutsch-polnischen
Grenze, direkt an der Oder. Der Fluss bildet die natürliche Grenze zwischen
Polen und Deutschland. Auf der anderen Seite des Flusses liegt Frankfurt
(Oder).
Wiktor parkt sein Auto, nimmt seine Schultasche und geht zu Fuß über die
Stadtbrücke. Am Ende der Brücke liegt der Grenzübergang. Wiktor zeigt dem
Grenzbeamten seinen Schülerausweis und passiert die Grenze. Dann geht er noch
einmal knapp 10 Minuten zu Fuß. Schließlich ist er am Ziel: dem
Karl-Liebknecht-Gymnasium in Frankfurt an der Oder. Es ist kurz vor halb acht.
Im Klassenzimmer setzt sich der Pole Wiktor neben seinen deutschen
Klassenkameraden und Schulfreund Konrad, 19. Beide gehen in die 11. Klasse. Sie
lernen gemeinsam in einer deutsch-polnischen Klasse. Am Ende der Jahrgangsstufe
13 bekommen beide ein deutsches Abitur, so wie alle Schülerinnen und Schüler
der Klasse 11 D. Wer zusätzlich den Kurs "polnische Geschichte" auf
Polnisch belegt, kann die Eignungsprüfung für polnische Hochschulen
absolvieren. In der Klasse 11 D sitzen 13 Deutsche neben 13 Polinnen und Polen.
Ihr Lehrplan entspricht dem eines deutschen Gymnasiums. Der Unterricht in Musik
und Kunst ist zweisprachig. Begehrte
Plätze
In Polen ist der Schulbesuch
in Deutschland sehr begehrt. Jedes Jahr bewerben sich 80-90 polnische
Schülerinnen und Schüler des Bezirks Lubuskie um einen Platz am
Karl-Liebknecht-Gymnasium. Nach schriftlichen und mündlichen Prüfungen werden Jahr
für Jahr die 26 Besten genommen. "Mit dem deutschen Abitur hat man bessere
Zukunftschancen", meint Marta, 18, "man bekommt problemlos einen
Studienplatz in Deutschland und nach dem Studium vielleicht auch einen
Arbeitsplatz in Deutschland, wenn Polen Mitglied der Europäischen Union ist."
Die meisten polnischen Schülerinnen und Schüler am Karl-Liebknecht-Gymnasium
wollen nach dem Abitur in Deutschland studieren, "möglichst in
Westdeutschland", wie Monika, 18, präzisiert.
Die deutschen Schülerinnen und Schüler der Klasse 11 D lernen alle seit der
Klasse 7 Polnisch. "Wenn ich an der deutsch-französischen Grenze wohnen
würde", sagt Damian, 19, der einen polnischen Vater hat, "würde ich
natürlich Französisch lernen." Dirke, 17, wurde einfach in die Klasse 11 D
versetzt. Zunächst war sie skeptisch. Doch: "Im Nachhinein sage ich: Das
war ein Glücksfall für mich! Denn wer hat schon die Chance, in eine binationale
zweisprachige Klasse zu gehen? Da sieht man manches mit anderen Augen, da wird
man für manches offener!"
Hohe Anforderungen Angelika
Höber ist die Klassenlehrerin der Klasse 11 D. Sie sagt: "Ich ziehe vor
allen Schülerinnen und Schülern aus Polen den Hut1, die diesen Weg wählen und
durchstehen!" Schließlich haben die jungen Polinnen und Polen zunächst enorme
Sprachprobleme. Dafür sind sie den Deutschen in den Naturwissenschaften voraus.
Hinzu kommen unterschiedliche Arbeitsweisen: In Polen ist das angelernte Wissen
enorm, dafür wird weniger kombiniert, systematisiert und abstrahiert als an
deutschen Oberschulen. "Es wäre sehr hilfreich", so die Pädagogin,
"wenn die Polinnen und Polen ein Jahr früher zu uns kämen, um die Sprache
besser zu lernen, und wenn sie in Deutschland wohnen würden." Doch dafür fehlt
das Geld.
So ist der Wechsel auf das Karl-Liebknecht-Gymnasium für viele aus Polen wie
ein Sprung ins kalte Wasser2: Nach einer Einführungswoche fahren die neuen
deutsch-polnischen Klassen eine Woche lang in eine Jugendherberge. Dort lernen
sie sich kennen. Danach geht der normale Unterricht los. Für die Polinnen und
Polen stehen pro Woche 31 Schulstunden der Jahrgangsstufe 11 sowie 3 Stunden
Polnisch und 2 Stunden "Ausgleichsunterricht" auf dem Stundenplan. Bei
diesem Zusatzunterricht vertiefen sie ihre Deutschkenntnisse. Wahlfächer wie
Psychologie oder Astronomie kommen hinzu. Für die meisten bedeutet das über 40
Stunden Unterricht in der Woche.
Kleinere Schwierigkeiten Hoher Besuch in der Klasse 11 D. Eine Delegation des
brandenburgischen Ministeriums für Bildung, Jugend und Sport diskutiert mit den
Schülerinnen und Schülern über das deutsch-polnische Schulprojekt. Dabei kommen
auch Probleme zur Sprache: Piotr, 18, wohnt in Slubice im Internat. Er bezahlt
nichts dafür ein Beitrag der polnischen Seite am Projekt. Aber Piotr ist mit
den Lebensbedingungen im Internat nicht sehr glücklich. Zum Beispiel muss er
wie jüngere Schülerinnen und Schüler um 21 Uhr zu Hause sein. Sein Mitschüler
Pawel, 18, hat das Problem auf seine Art gelöst: Er wohnt jetzt in Slubice in
einer Wohngemeinschaft. Seine Eltern bezahlen seinen Mietanteil. Zwei weitere
Probleme werden angesprochen: Einige Lehrerinnen und Lehrer gehen zu wenig auf die
spezielle Lernsituation in den deutsch-polnischen Klassen ein; außerdem könnte
das Lehrmaterial besser sein. Oberschulrat Karl Fisher ist dennoch "stolz
auf das deutsch-polnische Schulprojekt, trotz kleinerer Schwierigkeiten".
Projektleiter Stefan Woll ist überzeugt: "Diese Ausbildung ist ein
Sprungbrett für die Zukunft. Denn Englisch und Französisch kann jeder, aber um
,Exoten‘ wie Sie werden sich die Firmen später reißen!" Das Problem
"Unterrichtsmaterialien" wird noch am selben Tag gelöst: Die Leute vom
Ministerium versprechen Geld für bessere Bücher. Ein anderes Problem können sie
dagegen nicht lösen: Die polnischen Schüler und Schülerinnen sind meistens
unter sich, zum Beispiel während der Pausen auf dem Schulhof. Für Treffen
außerhalb der Schule fehlen Zeit und Ort. Freundschaften wie die von Konrad und
Wiktor sind eine Ausnahme leider.
Jörg-Manfred Unger
1 den Hut vor jemandem ziehen - vor jemandem Hochachtung haben
2 ins kalte Wasser springen (idiomatisch) - etwas ohne Vorbereitung beginnen
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